Slava Seidels „Magic Spaces“.

Die Erweiterung der Wirklichkeit

 

Dr. Peter Lodermeyer

Kunsthistoriker und Kurator, Bonn

Springtime, 2018, Sepiatusche und Acryl auf Leinwand, 90 x 110 cm


Wir befinden uns in einer riesigen Höhle. In einiger Entfernung sieht man einen Radfahrer, der sich auf einem schmalen Pfad nach rechts hin dem Höhlenausgang nähert. Damit zieht er den Blick des Betrachters zur rechten Bildhälfte, wo sich, genau auf der Schwelle zwischen Höhlen- und Außenraum, eine weitere Figur befindet, die am Boden sitzt und auf die Frühlingslandschaft hinausschaut. Diese sitzende und schauende Person wird somit zur Identifikationsfigur des vor dem Bild verharrenden Betrachters. Die Farben der Landschaft im Sonnenschein, vor allem die sattgrüne Wiese, ziehen den Blick auf sich – und so dauert es eine Weile, bis man geradezu schockhaft das ganz und gar rätselhafte Hauptmotiv des Bildes bemerkt. Die Bildanlage – Blick aus dem Höhleninneren hin zum gleißenden Licht draußen – folgt einem wohlbekannten Bildschema der europäischen Landschaftsmalerei, für das sich vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, von dem Flamen Joos de Momper über den Schweizer Caspar Wolf bis hin zu dem französischen Landschaftsmaler Théodore Rousseau (um nur ein paar Namen zu nennen), zahlreiche Bildbeispiele finden lassen. Slava Seidel nimmt dieses Schema auf, verwandelt es dabei aber in eine ganz und gar mysteriöse Szenerie. Auf den zweiten Blick nämlich fällt auf, dass die Höhle, in der sich der Bildbetrachter in recht großer Höhe zu befinden scheint, keineswegs natürlichen Ursprungs ist, schaut man doch geradewegs in eine zur Seite gekippte, riesige Gewölbekuppel hinein, die  einem barocken Kirchen- oder Palastgebäude entstammen könnte. Man sieht Gewölberippen, Ornamentkassetten und wohl auch die Andeutung einer Deckenmalerei. Wie ist das möglich? Haben Menschen diese Architekturformen aus den Höhlenwänden herausgehauen? Aber wer sollte eine solche Titanenarbeit vollbringen – und warum? Oder ist die Kuppel eine Ruine, ein Überrest aus längst vergangener Zeit, der nach Äonen Bestandteil der natürlichen Umgebung geworden ist? Eins wie das andere erscheint vollkommen irreal und phantastisch, beide Vorstellungen reißen unvorstellbare Zeiträume auf, die Szenerie scheint einem Traum oder einem Fantasy-Film zu entstammen. Zu diesem Eindruck tragen dann auch die übergroßen Kristalle bei, die am Höhlenboden verteilt liegen.

Das mit Sepiatusche und Acrylfarbe gemalte Bild „Springtime“ von 2019 ist ein gutes Beispiel für die Fähigkeit von Slava Seidel, in ihren Arbeiten Zeit-, Raum- und Realitätsebenen durcheinanderzuwirbeln und dem Betrachter die Orientierung zu rauben. Beim Beschauen von Seidels Bildern kann man sich selbst immer wieder dabei beobachten, wie einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, indem sich die Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen Fantasie und Wirklichkeit, Gegenwart und Vergangenheit auflösen und die eigene Vorstellungskraft aufs Äußerste herausgefordert wird. Angesichts der traumartigen Bilderfindungen, die so typisch sind für das Werk von Slava Seidel, wurde gelegentlich der aus der Kunst des 20. Jahrhunderts vertraute Begriff des Surrealismus herangezogen. Jedoch taugt dieser – trotz seiner Nähe zu Traum und Phantastik – meines Erachtens nicht, um die Kunst von Slava Seidel angemessen zu beschreiben. Denn der Surrealismus setzte auf ein Aushebeln der Verstandeskontrolle und das Anzapfen unbewusster Kräfte in einem automatischen Bildentstehungsprozess. Doch davon kann bei Slava Seidel keine Rede sein; ihre Bilder sind wohlüberlegte, äußerst kunstvolle Konstruktionen einer aus den Fugen geratenen Wirklichkeit. Für viele ihrer Arbeiten passt, so meine ich, ein älterer Begriff aus der Kunstgeschichte viel besser: das Capriccio. Mit diesem Terminus, der in sich das Geistreiche, Groteske, Exzentrische und Scherzhafte vereint, bezeichnet man eine Kunstform des kalkulierten Regelverstoßes gegen künstlerische Normen, für die Namen wie Jacques Callot, Giovanni Battista Tiepolo oder Francisco de Goya stehen. Der Kunsthistoriker Werner Busch hat das Capriccio in einem wichtigen Aufsatz charakterisiert: „Es setzt ein Fragezeichen hinter allen Gewißheiten. Das Capriccio lebt vom Aufbau der Illusion und seiner folgenden Zerstörung, es lebt vom Umschlag.“ In ihm zeigt sich „Ungeordnetes, Unproportioniertes, Ver-rücktes, Mystisches, Okkultes, Undurchschaubares, Ängstigendes, Höhnisches (...)“. Busch spricht mit Blick auf die Grundstruktur des Capriccio von einer „Erweiterung der Wirklichkeit.“ Im Werk von Slava Seidel sind cappriccioartige Wirklichkeitserweiterungen, wie sie der Kunsthistoriker beschreibt, in großer Zahl zu finden – und tatsächlich nennt die Künstlerin eine ihrer 2019 entstandenen Arbeiten „Architectural Capriccio“.

 

Architectural Capriccio, 2019, Sepiatusche auf Leinwand, 130 x 150cm

Dort sieht man in starker Untersicht einen barocken Gebäudeteil, möglicherweise die Ecke eines Palazzos, aus deren leeren Nischen palmenartige Bäume herauswachsen. Zunächst denkt man an Ruinen, die von der Vegetation zurückerobert wurden; stutzig macht jedoch, dass die Palmen mehr oder minder horizontal aus der Architektur herausragen. Wenn man dann oberhalb des Gebäudes Wurzeln tragende Baumstämme durch die Luft fliegen sieht, scheint es eher, als ob die Palmen rätselhafte Parasiten wären, die sich an dem Gebäude festkrallen – wiederum eine ganz und gar phantastische oder (alp-)traumhafte Vorstellung.

 

Architectural, 2018, Sepiatusche auf Papier, 100 x 70cm

Typisch für das historische Capriccio und jede neuere „capriccioartige“ Kunst ist für Werner Busch das „Antiklassische“, der bewusste „Verstoß gegen die Regeln im Namen freier Phantasie- und Kunstentfaltung“. Das lässt sich auch auf Seidels künstlerische Haltung übertragen, denn schließlich gibt es auch heute noch ungeschriebene, aus der Moderne abgeleitete Regeln oder besser: Behauptungen darüber, wie man heute – angeblich – nicht mehr malen könne oder dürfe: figurativ, narrativ, illusionistisch, symbolisch, allegorisch... Gegen all diese „Verbote“ verstößt Slava Seidel mit großer Souveränität. Ganz bewusst setzt sie nicht auf Avantgardeattitüden, sondern wendet den Blick zurück auf die Kunstgeschichte, um sie sich in ihren capriccioartigen Kompositionen ganz neu anzueignen. Nicht zufällig lässt sie eine besondere Vorliebe für das Barock erkennen, jene Epoche der Kunst also, die durch kühnen Raumillusionismus und theatralische Bildinszenierungen gekennzeichnet war.

 

 

Komposition 01, 2019, Sepiatusche und Acryl auf Leinwand 100 x 120cm

Seidels Spiel mit Raum- und Wirklichkeitsebenen lässt sich sehr schön am Beispiel ihres Gemäldes „Komposition 01“ von 2019 nachvollziehen. Sitzt der Pianist tatsächlich in einer Hochgebirgslandschaft, in der wundersamerweise eine riesige Palme gedeiht? Oder ist das Ganze doch nur Bühnenbildzauber, worauf die mit einem roten Vorhang verhängte Tür und der Bretterboden im Vordergrund hindeuten?

 

 

 

Kupol, 2019, Sepiatusche und Acryl auf LW, 150 x 130 cm

Barocke oder pseudo-barocke Architekturen spielen in Seidels Arbeiten immer wieder eine Hauptrolle, eine Vorliebe hat sie vor allem für Kuppelbauten.

 Gleich vier davon hat sie in dem Bild „Kupol“ von 2019 als Aufrisse übereinandergetürmt. Als eine Künstlerin, die während ihres Studiums der Innenarchitektur in Sankt Petersburg eine grundsolide handwerkliche Ausbildung in Architekturzeichnung erhalten hat und danach zeitweise als Bühnenbildnerin arbeitete, ist Slava Seidel mit allen Wassern illusionistischer Darstellungskunst gewaschen. Ein bemerkenswertes zeichnerisches Können in der Handhabung des schwierigen, da kaum Korrekturen erlaubenden Malmittels Sepiatusche kommt noch hinzu.

 

 

Cupola, 2020, Sepiatusche auf Leinwand, 130 x 150 cm

Geradezu atemberaubend ist die Raumkonstruktion in einem Bild wie „Cupola“ von 2020,  wo eine Gebäudekuppel auf ein riesiges liegendes Viereck projiziert wurde. Mitten in dieser Fläche aber schäumt Wasser auf wie auf hoher See, dort navigiert ein Segelschiff aus vergangenen Zeiten. Das Ganze ist absurderweise in einem Gletschertal situiert, das von schroffen hochalpinen Berggipfeln umstellt ist – eine Weltlandschaft der besonderen Art.

 

 

 

Raum mit Aussicht, 2019, Sepiatusche auf Leinwand 130 x 150 cm

Nicht minder abenteuerlich sind die verschiedenen Raumebenen in der Komposition „Raum mit Aussicht“ von 2019 ineinandergeblendet. 

Am unteren Bildrand sieht man ein Segelboot am Meeresstrand liegen, ein leerer Sessel wartet, dem Betrachter zugewandt, in den Dünen. Dahinter steht eine Rückenfigur und betrachtet eine phantastische Szenerie: Ein Gebirgsbach stürzt zwischen fernen Fichten hindurch jäh herab ins Tal, während sich an den Seiten steile Felswände auftun, die wiederum, wenn man genau hinschaut, an den äußeren Enden in Architekturformen übergehen. Strand und Gebirge, Naturraum und architektonischer Innenraum – alles ist zu einer grandiosen, irrealen Raumvision zusammengefügt. Nachgetragen sei noch, dass der bildinterne Betrachter, wie alle menschlichen Figuren in Slava Seidels Bilderkosmos, männlichen Geschlechts ist – damit entzieht sie simplen biographischen Interpretationsversuchen ihrer Bilder von vornherein jede Grundlage.

 

 

Allegorische Stimmung, 2016, Sepiatusche auf Leinwand, 90 x 100 cm

Barok muten nicht nur die kühnen Raumerweiterungen in Seidels Bildern an, sondern auch ihr Hang zu allegorischen Szenen.

Ein Totenkopf und ein Schmetterling – die Hauptmotive ihres Bildes „Allegorische Stimmung“ von 2016 sind aus zahllosen Vanitasgemälden des 17. Jahrhunderts bekannt. Der Totenschädel erinnert als Memento mori an die Vergänglichkeit aller Dinge, des menschlichen Lebens zumal, Schmetterlinge stehen für die Seele des Menschen und nicht zuletzt für die Hoffnung auf ewiges Leben. Indem Slava Seidel die Größenverhältnisse der beiden Motive verkehrt und  den Schmetterling so groß darstellt, dass er mit dem menschlichen Schädel zu spielen scheint, kommt diese Symbolik ins Kippen: Der Falter wirkt erschreckender als das längst zum Klischee verkommene Schädelmotiv.

 

 

Touch, 2019, Sepiatusche auf Papier, 30 x 40 cm

Ein noch größerer Schmetterling berührt in der kleinformatigen Zeichnung „Touch“ einen am Boden sitzenden Anzugträger an der rechten Schulter. Er ist etwa so groß wie der Mann selbst, dessen ausgebreitete Rockschöße den Insektenflügeln ähneln. Die beiden Wesen scheinen eng aufeinander bezogen zu sein wie ein ungleiches Zwillingspaar, oder eher noch so, als ob der Falter ein groteskes Alter Ego des Mannes, sein kafkaeskes Spiegelbild sei. Damit erinnert die Figur an Gregor Samsa aus Kafkas berühmter Erzählung „Die Verwandlung“, der sich, als er „eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, (...) in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ fand. Unruhigen Träumen scheinen auch viele Bildmotive Slava Seidels entsprungen zu sein, faszinierenden und schrecklich-schönen.

 

 

Springtime, 2018, Sepiatusche und Acryl auf Leinwand, 90 x 110 cm

 

 

 

SLAVA SEIDEL

Magic Spaces

Slava Seidel (*1974) stammt aus der Ukraine und lebt und arbeitet heute in Wetzlar. Sie hat zunächst Innenarchitektur in St. Petersburg studiert und danach dort mehrere Jahre als Bühnenbildnerin gearbeitet, eine solide Grundlage für die komplexen Raumprojektionen ihrer späteren Arbeiten. 2002 kam sie nach Deutschland, studierte Bildende Künste an der Städelschule in Frankfurt, schloss dort in 2008 ab und wurde Meisterschülerin von Prof. Christa Näher.

 

 

Seidel's Arbeiten sind in mehrfacher Hinsicht unverkennbar. Eines ihrer Alleinstellungsmerkmale ist die Anwendung von Sepiatusche auf Leinwand und Papier, eine anspruchsvolle Technik, die  spontane zeichnerische Fertigkeit erfordert und keine Korrekturen im Nachhinein erlaubt. Die spezifische Aura ihrer Bilder ist geprägt von den spezifischen Eigenschaften der Tusche, die,  wässrig aufgetragen,  je nach Malgrund und Verdünnungsgrad farblich von Braun nach Grau, Grün oder gar Blau changiert, Flecken und Rinnsale bildet und die Motive mit einer Patina überzieht, die an alte Fotos denken lässt. Hier bewegt sich Seidel souverän zwischen Zeichnung und Malerei.

 

 

Und dann die Motive: Typisch für Seidel ist der virtuose Umgang mit Bildräumen, die oft zunächst verwirrend und auch bei längerer Betrachtung rätselhaft erscheinen: Sie erinnern häufig an Elemente von Barock oder Romantik, sind aber eben keine Abbildungen von Realität, sondern illusionistische Variationen von Bauformen oder Landschaften, die eine geheimnisvolle, magische Atmosphäre erzeugen als Aktionsräume für die Menschen und Tiere, sich in den Bildern bewegen.

 

Peter Lodermeyer schreibt: "Slava Seidel's Raumillusionen stecken voller Rätsel und Abgründe, die den Betrachter geradewegs in eine Welt führen, in der sich Realität, Theater, Traum und Fantasie zu einer unentwirrbaren Einheit verbinden, die gewohnte Logik sich auflöst und unterschiedliche Raum- und Zeitebenen sich überraschend und spannungsvoll begegnen".